In sehr vielen Situationen wissen wir (zum Glück) sehr genau, wie wir uns verhalten sollten. Und es fällt uns auch überhaupt nicht schwer, uns richtig zu verhalten.
Es gibt aber auch Situationen, in denen wir in einen ethischen Konflikt hineingeraten. Das sind Situationen, in denen es eine ethisch unumstrittene oder einfache Lösung nicht gibt. Wenn wir unser Gewissen befragen, sagt es nicht klar und eindeutig "Tu X. Denn das ist richtig" Wenn wir zwei unterschiedliche Menschen nach ihrer Meinung befragen, sagt der eine vielleicht: "Du solltest X tun!". Und die andere sagt: "Ich finde es falsch, X zu tun. Mach Y." Dann befinden wir uns in einer ethischen Konfliktsituation oder in einem ethischen Dilemma.
Solche ethischen Dilemmata sind schwer zu entscheiden, weil es ja naturgemäß keine "eindeutig richtige Lösung" gibt.
Aber genau diese Dilemmata und die Diskussion um die bessere (oder manchmal auch: um die weniger schlechte) Lösung eines Konflikts machen das Fach Ethik spannend.
Es gibt eine ganze Reihe philosophischer Gedankenexperimente, die ethische Dilemma-Situationen beschreiben. Meistens spitzen sie die Konflikte gedanklich so zu, dass Grundfragen oder Grundprobleme besonders deutlich sichtbar werden. Wenn wir diese Gedankenexperimente nachvollziehen und uns mit ihnen auseinandersetzen, können wir aber lernen, mit Konflikten aus der Praxis besser und sicherer umzugehen.
Ein berühmtes Gedankenexperiment ist das Gleisarbeiter-Dilemma (oder Trolley-Dilemma). Zu diesem Grund-Dilemma, in dem es um die Frage geht, ob man durch das Umstellen einer Weiche das Leben von fünf Gleisarbeitern retten darf (soll / muss?), wenn man damit einen sechsten Gleisarbeiter auf dem Nebengleis "opfert". Das Video zeigt das Dilemma und erklärt, wie die meisten Menschen darüber denken. (Das sagt aber noch nichts über die Frage, welches Verhalten das bessere ist).
Es gibt viele Varianten des Trolley-Dilemmas. Ein Beispiel ist der preisgekrönte kurze Spielfilm "Sommersonntag" von F. Breinersdorfer und S. Kemmel
Auch in der fiktionalen Literatur (in Romanen oder Theaterstücken) werden immer wieder Dilemma-Situationen beschrieben. Sie machen Geschichten spannend und treiben Helden in Konfliktsituationen. Ein berühmtes Beispiel ist die Antigone, die Tochter des griechischen Königs Ödipus im Drama "Antigone" von Sophokles. Sie möchte - dem eigenen Gewissen und dem Gesetz der Götter gehorchend - ihren gefallenen Bruder Polyneikes begraben. Doch das hat König Kreon verboten. Darf sie aus Gewissensgründen das Gesetz des Königs brechen? Oder muss sie es vielleicht sogar tun?
Es gibt in der Geschichte zahlreiche interessante ethische Dilemma-Situationen. Ein historisches Beispiel zeigt der Spielfilm "Die Akte Grüninger". Es geht um den Schweizer Polizisten Paul Grüninger, der im Nationalsozialismus jüdischen Flüchtlingen hilft, bei Hohenems-Dipoldsau illegal über die Grenze in die Schweiz zu kommen. Er hilft Menschen und rettet ihnen zum Teil das Leben. Aber er bricht das geltende Gesetz, das er als Polizist eigentlich schützen müsste.
Ein anders historisches Beispiel ebenfalls aus der Zeit des Nationalsozialismus sind Hans und Sophie Scholl und die anderen Mitglieder der "Weißen Rose". Sie verteilen in der Zeit des Nationalsozialismus Flugblätter, in denen sie zum Widerstand gegen das NS-Regime aufrufen. Damit kämpfen sie gegen ein Unrechtsregime. Aber sie brechen das geltende Gesetz. Und sie riskieren dabei auch das eigene Leben. Die Gruppe "fliegt auf" und mehrere Mitglieder - unter ihnen auch Sophie Scholl - werden zum Tod verurteilt und hingerichtet. Die Geschichte wurde mehrfach verfilmt. Zuletzt von Marc Rothemund im Spielfilm "Sophie Scholl. Die letzten Tage."
In Dilemma-Situationen sind auch so genannte Whistle-Blower, die aus Gewissensgründen Insiderinformationen über Missstände veröffentlichen. Ein Beispiel ist Edward Snowdon, ein Geheimdienst-Mitarbeiter, der 2013 als Whistleblower die teils illegalen Datensammlungen des NSA (National Security Agency) öffentlich gemacht hat. Er hat damit seinen eigenen Arbeitsvertrag und offenbar auch nationale Gesetze (und damit die Norm der Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber und die Norm der Gesetzestreue) verletzt. Andererseits hat er damit versucht, das grundlegende Recht auf Privatsphäre und Datenschutz, das er bedroht sah, zu verteidigen.
Es gibt noch viele weitere Beispiele für Dilemma-Situationen, in die Menschen kommen können, die in der "großen Politik" z. B. als Staatsbeamte oder als Politikerinnen Verantwortung tragen. Zum Beispiel:
Aber auch im "ganz normalen Alltag" geraten Menschen immer wieder in Dilemma-Situationen.
Zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob man einen Mitschüler, der etwas gestohlen hat, melden soll. Hier kollidieren zwei Normen oder ethische Prinzipien miteinander. Die eine Norm eine besagt, dass man nicht "petzt". Die andere sagt vielleicht, dass man mit Schweigen und Wegschauen Ungerechtigkeit unterstützt und der geschädigten Mitschülerin nicht hilft.
Weitere Beispiele für solche Dilemma-Situationen, die Schülerinnen im Unterricht eingefallen sind:
Die Begründungen, die Menschen anführen, wenn sie eine ethische Dilemma-Frage beantworten, können unterschiedliche Ausgangspunkte haben.
Wichtig ist: Nicht jede Situation, in der es unterschiedliche Verhaltensmöglichkeiten gibt, ist ein ethisches Dilemma. Die Frage, ob ich meinen Müll einfach auf dem Tisch in der Cafeteria stehen lassen darf, ist KEINE Dilemma-Situation. Denn hier gibt es keine guten ethischen Gründe, den Müll liegen zu lassen. Denn Gedankenlosigkeit oder egoistische Bequemlichkeit sind keine ethischen Handlungsprinzipien. Und Grundwerte schützen wir nur, wenn wir unseren Müll ordentlich beseitigen.