Die Gerechtigkeit enthält in sich eine unüberwindliche Spannung:
Gleichheit ist ihr Wesen. Allgemeinheit ist deshalb ihre Form – und dennoch
wohnt ihr das Bestreben inne, dem Einzelfall und dem Einzelmenschen in ihrer
Einzigartigkeit gerecht zu werden.
[Gustav Radbruch. Vorschule der Rechtsphilosophie].
Das deutsche Nomen "Gerechtigkeit" (oder das Adjektiv "gerecht) hat etwas mit "recht" oder "richtig" zu tun. Es ist mit dem Verb "richten" verwandt (im Sinn von urteilen/beurteilen, vgl. "Richter"; aber auch im Sinn von herrichten, etwas richtig stellen, etwas gerade richten, etwas ausgleichen, etwas ins Lot/Gleichgewicht bringen). Aber auch Begriffe und Phrasen wie "Recht sprechen" oder "es jemandem recht machen" gehören zum selben Wortfeld.
Der entsprechende lateinische Begriff ist Justitia. Das ist im deutschen Fachbegriff "Justiz" (also Gerichtswesen) noch deutlich sichtbar, aber z. B. auch im "justieren" (im Sinn von zurecht rücken, wieder richtig stellen oder ausgleichen). Auch im englischen "justice" ist die lateinische Wurzel gut sichtbar.
Der analoge altgriechische Begriff lautet dikaiosyne. Darin stecken die Zahl Zwei (di), das Verb "brennen" (kaios) und die Vorsilbe "zusammen" (syn). Das Wort bedeutet also in etwa: zwei unterschiedliche Phänomene zusammenbrennen, also: zusammenführen / verbinden / vereinigen.
Die Wortgeschichte macht also klar, dass Gerechtigkeit etwas ist, was das Ergebnis eines Denk- oder Urteilsprozesses ist. Es gibt sie nicht "per se". Sie muss in Form eines Ausgleichs oder eines Kompromisses gesucht werden. Sie liegt irgendwo in der Mitte zwischen extremen Polen.
Wenn wir über Gerechtigkeit diskutieren, geht es immer darum, zwei oder mehr Menschen (oder auch Situationen) miteinander in Beziehung zu bringen. Gerechtigkeit ist also nie etwas Absolutes, sondern immer auf eine Vergleichsperson oder eine Vergleichssituation bezogen. Eine Entlohnung oder eine Strafe ist gerecht oder ungerecht im Vergleich mit einer anderen Person, die sich in einer irgendwie ähnlichen Lage befindet. Doch die Arbeitsleistung von zwei Personen ist selten genau identisch. Ihre Lebenssituationen sind es auch nicht. Und auch wenn zwei Menschen Recht brechen, indem sie z. B. Steuern hinterziehen oder zu schnell fahren, gibt es bei näherer Betrachtung doch auch Unterschiede. Gerechtigkeit bedeutet, auch die Unterschiede im vordergründig Gleichen zu berücksichtigen.
Der eine Pol, um den es geht, ist also die Gleichheit. Gleiches sollten wir gleich behandeln. Doch was ist der andere Pol, um den es geht und an dem wir die Unterschiede festmachen? Da beginnt die Sache vertrackt zu werden. Denn darüber herrscht in der Diskussion kein Konsens. Es gibt unzählige Vorschläge zur Frage, wovon die Ungleichheit hergeleitet werden soll, die zu einer gerechten Anders-Behandlung führen muss. Auch welche Formen von Ungleichheit wir als Unterscheidungskriterium nicht akzeptieren können, ist umstritten. Allerdings haben viele Jahre gesellschaftlicher Diskussion uns zumindest soweit gebracht, dass wir eine "Grenzpflöcke" ziehen können. So ist es zumindest möglich zu sagten, dasss bestimmte Verhaltensweisen oder Entscheidungen oder Urteile eindeutig ungerecht oder willkürlich sind.
Grundform 1: Tauschgerechtigkeit; Frage nach dem Leistungsprinzip
è Frage
nach der Beziehung zwischen Leistung und Entlohnung dieser Leistung; Frage nach
den Kriterien für die Bewertung von Leistung
Grundform 2: Verteilungsgerechtigkeit; Frage nach dem Solidaritätsprinzip
è
Begrenztheit von Ressourcen und Konkurrenz um diese Ressourcen führt zur Frage
nach einer gerechten Verteilung der knappen Ressourcen
[1]
Gustav Radbruch: Vorschule der Rechtsphilosophie
Gegenbegriffe zu Gerechtigkeit sind "Ungerechtigkeit" und "Willkür".
Und was Willkür bedeutet, können wir erstaunlich genau sagen. Es bedeutet, dass jemand ein Urteil nach ganz persönlichen Kriterien, die er niemandem gegenüber offenlegt, fällt. Er setzt dieses Urteil durch, weil er sich in der mächtigeren Position befindet. Er kann die Kriterien jederzeit nach Belieben ändern. Er muss sich niemandem gegenüber rechtfertigen. Und gegen ein willkürliches Urteil gibt es keine Einspruchs-Möglichkeiten.
Willkürlich würde z. B. eine Lehrerin handeln, die einen Schüler durchfallen lässt und eine andere Schülerin nicht durchfallen lässt, ohne dass ein Unterschied in deren Leistungen erkennbar wäre. Sie würde nicht erklären und begründen, wie sie zu ihrem Urteil kommt. Und niemand dürfte ihre Bewertung hinterfragen. Und schon gar nicht würde sie einen Fehler zugeben oder eventuell sogar die Bewertung revidieren. Willkürlich würde sie aber auch handeln, wenn sie ein Kriterium oder einen Maßstab anlegt, den wir als geeigneten Maßstab für eine Differenzierung nicht akzeptieren. Wenn sie also zum Beispiel sagt, dass sie Schülerinnen prinzipiell strenger bewertet als Schüler.
Einige wichtige Kriterien, um willkürliche Urteile kritisieren zu können, sind ...
die gerechtem Handeln zugrunde gelegt werden müssen; es darf nicht nur ein
Einzelfall betrachtet werden; Ausrichtung der Verhaltens an einem allgemeinen
Prinzip; erkennbare Beziehung zwischen Verhalten und dem allgemeinem Prinzip;
Befolgung des Prinzips hat Vorrang vor momentanen kurzfristigen Interessen der
Beteiligten