Ein Verantwortungskonflikt ist ein ethisches Dilemma. Es entsteht, wenn sich zwei Handlungsnormen oder zwei Grundwerte so widersprechen, sodass es keine "gute" Lösung für die Situation gibt. Meistens gibt es auch unterschiedliche Verantwortungsadressaten, denen gegenüber wir widersprüchliche Verpflichtungen haben oder die von den Folgen unserer Handlung betroffen sind.
Zahlreiche philosophische Gedankenexperimente versuchen durchzudenken, wie wir mit Verantwortungskonflikten umgehen können. Das Gedanken-Experiment mit dem Trolley-Problem ist eines der berühmtesten. Es spitzt eine Situation zu, in der es keine gute Lösung gibt und in der ein handelnder Mensch in dem Moment, in dem er über die Situation Bescheid weiß, in jedem Fall "schuldig wird", selbst dann, wenn er nichts tut.
Die klassische ethische Gedankenkette, mit der ein Mensch in einer Verantwortungssituation konfrontiert ist, umfasst mehrere Ebenen:
Die Geschichte
Antigone, die Protagonistin im antiken Drama "Antigone" von Sophokles, ist ein interessante Figur, die sich in einem Verantwortungskonflikt befindet.
Antigone ist die Tochter des tragischen Königs Ödipus. Nach dessen Tod kommt es zu einem blutigen Machtkampf zwischen ihren Brüdern Polineikes und Eteokles um die Thronfolge. Beide Brüder sterben. Antigones Onkel Kreon reißt die Macht an sich. Er befiehlt, dass Eteokles - so wie es das göttliche Gesetz es verlangt - ehrenvoll begraben wird. Doch Polineikes, dem er Verrat vorwirft, verweigert Kreon die Beerdigung. Seinen Körper sollen die wilden Tiere fressen.
An dieser Stelle muss man wissen, dass die Schändung von Toten in sehr vielen Kulturen als grobe Verfehlung gilt. Und gerade in der griechischen Ethik ist es eine der größten Schandtaten gegenüber einem Menschen, ihm nach seinem Tod die Beerdigung zu verweigern. Denn seine Seele kann so nicht in den Hades gelangen.
Antigone befindet sich in einem Verantwortungskonflikt: Die Götter - oder: ihr eigenes Gewissen - verlangen von ihr, ihren Bruder zu beerdigen. Der Machthaber Kreon verbietet genau diese Beerdigung. Wie auch immer Antigone handelt: Sie verletzt ein Handlungsgebot und macht sich in diesem Sinn schuldig.
Antigone entscheidet sich dafür, Polineikes zu beerdigen. Sie stellt damit das Gebot der Götter über das Gesetz des Königs. Das ist eine Möglichkeit, ein ethisches Dilemma zu lösen. Die für uns interessante Frage ist, wie Antigone in der Folge mit ihrer Verantwortung umgeht und wie sie diese Verantwortung wahrnimmt. Denn Kreon erfährt, was sie gemacht hat, und er zieht sie zur Verantwortung.
Die Analyse der Situation im Hinblick auf das Thema Verantwortung
Wie Antigone sich tatsächlich verhält und welche Dynamik die Geschichte dadurch bekommt, erfahren wir, wenn wir den Text lesen (oder zumindest nachlesen, was über das Drama im Internet zu finden ist. Zum Beispiel auf Wikipedia.
Was ist ziviler Ungehorsam?
Was Antigone macht, würden wir heute als "zivilen Ungehorsam" bezeichnen. Damit ist gemeint, dass eine zivile Person (also kein Repräsentant des Staates, sondern ein Bürger oder eine Bürgerin) wissentlich ein staatliches Gesetz missachtet, weil sie dieses für falsch oder ethisch verwerflich hält. Wichtig ist, dass dies auf eine passive oder sonst gewaltfreie Weise passiert. Oft beruft diese Person sich dabei auf eine über dem Staat stehende "höhere Norm". Für die Autorität eines Staates ist ein solches Verhalten also immer eine besondere Provokation.
Dass man dabei mit "harmlosen" symbolischen Handlungen einen mächtigen Staat herausfordern kann, dass man für sein Anliegen viel Aufmerksamkeit bekommt und dass man so politische Veränderungen erzwingen kann, hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt. Mahatma Gandhi mit seinen "Salzmärschen" ist ein Beispiel dafür.
Der passive Widerstand gegen das NS–Regime, wie er von den Mitgliedern der „Weißen Rose“ mit ihren Flugblättern ausgeübt worden ist, würden wir als zivilen Ungehorsam bezeichnen. Ein weiteres historisches Beispiel für zivilen Ungehorsam war das bewusste Ignorieren von Rassentrennungsgesetzen in den Südstaaten der USA durch die Schwarzen-Rechts-Bewegung in den 60er-Jahren. Ebenfalls als zivilen Ungehorsam bezeichnen kann man illegale Besetzungsaktionen, weil man die Umwelt vor ihrer Zerstörung schützen oder Atomtransporte verhindern will. (Hainburger Au 1984; Blockade von Eisenbahnschienen zur Verhinderung von Castor-Transporten nach Gorleben/Deutschland). Wenn Musliminnen im Jahr 2016 gegen das "Burka- und Burkini-Verbote" verstoßen oder Muslime Frauen gegenüber den Handschlag verweigern, sind auch das Formen des zivilen Ungehorsams.
Man sieht: Ob und in welchem Zusammenhang ziviler Ungehorsam ethisch legitim ist, muss man immer im Einzelfall diskutieren. Denn einerseits ist es wichtig, dass staatliche Gesetze von allen akzeptiert und eingehalten werden; auch dann, wenn man sie persönlich nicht gut findet oder ablehnt. Denn nur so gibt es rechtliche Sicherheit und die Verlässlichkeit, die wir für ein zivilisiertes Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft brauchen.
Andererseits gibt es natürlich auch fragwürdige und schlechte Gesetze. Und demokratische Gesellschaften sollten auch harte Auseinandersetzungen aushalten.
Was aber klar ist: Ziviler Widerstand ist immer als symbolische Provokation des Staates, gegen den er sich richtet, und gegen dessen Normen gedacht. Und man muss sich sehr kritisch anschauen, auf welche "höheren Werte" und auf welche Legitimationsinstanzen sich jemand dabei beruft. Und wie "kompatibel" diese mit einer modernen, offenen, demokratischen Gesellschaft sind.
Wie ziviler Ungehorsam zu bewerten ist, hängt außerdem auch von der Staatsform ab, in der er passiert. Denn in totalitären Gesellschaften haben Menschen kaum Möglichkeiten, legal und in Übereinstimmung mit dem Recht Gesetze zu bekämpfen, die sie als ethisch problematisch betrachten und die sie deshalb bekämpfen wollen. Wer in einer Demokratie zu illegalen Mitteln greift, muss also stärkere Maßstäbe an sich anlegen lassen als jemand, der das in einem diktatorischen oder totalitären Staat macht.
Wer die Ethik und das "moralische Recht" auf seiner Seite hat, wenn er sich das Recht auf zivilen Ungehorsam herausnimmt, lässt sich manchmal erst mit zeitlicher Distanz bewerten. Manchmal auch gar nicht.
Zivilcourage als kleine Schwester des zivilen Ungehorsams.
Die "kleine Schwester" des zivilen Ungehorsams ist die Zivilcourage. Zivilcourage (Courage = Mut) bedeutet, dass jemand etwas macht, was erlaubt ist, aber dennoch Mut erfordert. Diese Person tut mehr, als man von ihr erwarten und verlangen kann und als ihre Pflicht ist. Sie macht das, weil sie es für ethisch notwendig und richtig hält. Zivilcourage zeigt zum Beispiel eine Person, die einem bedrohten Menschen zu Hilfe eilt und sich aktiv einmischt. Wer nur aus der Distanz einen Notruf auslöst, zeigt noch keine Zivilcourage. Die Grenzen zwischen Pflicht und Zivilcourage sind fließend. Sie hängen auch von den Umständen und den Personen ab. (Eine Feuerwehr-Frau tut meistens ihre Pflicht, wenn sie in ein brennendes Haus geht, um nach einer vermissten Person zu suchen. Ein Laie macht mehr, als man von ihm in einer solchen Situation verlangen kann.) Und auch die Grenzen zwischen Leichtsinn und Zivilcourage lassen sich nicht immer klar ziehen.
gewalthaltiger Widerstand gegen staatliche Normen als radikalisierte Schwester des zivilen Ungehorsams.
Daneben gibt es aber auch Menschen, die bewusst Gewalt in Kauf nehmen, um gegen als ungerecht empfundene politische Herrschaftsstrukturen oder gegen als ungerecht empfundene Rechtszustände anzukämpfen. Meistens legitimieren sie ihre Gewalt damit, dass sie sich auf "höhere Werte" oder auf Legitimationsinstanzen, die sie über den Staat stellen, berufen.
Dazu zählen historisch gesehen Sabotageakte gegen die Transportverbindungen an die Front während des Zweiten Weltkriegs (Sprengen von Eisenbahnschienen), aber auch Attentatsversuche auf Hitler (Stauffenberg-Attentat vom 21. Juli 1944).
Ebenfalls in diese Gruppe fallen Terrorgruppen (die sich selbst ja immer als Widerstandsgruppen sehen) wie beispielsweise in den 60er-Jahren militante Südtirol-Aktivisten (sprengten z. B. Strommasten für einen Anschluss Südtirols an Österreich), die linken Brigate Rosse (Italien) oder die RAF (Deutschland). Ebenfalls in diese Gruppe zu zählen wären der Terror der IRA (Nordirland), der ETA (Spanien), der HAMAS (Israel), im Irak, ...
Noch weniger Hemmungen, Gewalt einzusetzen, um für ihre politischen Ziele zu kämpfen, haben die islamistischen Terrorgruppen, die mit den Anschlägen auf die Twintowers in New York (9/11) schlagartig bekannt geworden sind, vor allem AlKaida und der IS/DASH. Beide Gruppen haben keinerlei ethische Bedenken oder moralische Skrupel, wenn es darum geht, Gewalt einzusetzen, um ihre Ziele durchzusetzen. Anders als die Terrorgruppen am Ende des 20. Jahrhunderts gehen sie gezielt auf Zivilisten los. Anders als diese "alten" Terrorgruppen versuchen sie, möglichst viele Menschen zu töten und möglichst viel Angst und Schrecken zu verbreiten. Einmal ganz abgesehen von der Frage, welche politischen Ziele sie verfolgen.
Die Bewertung von zivilem Ungehorsam und von gewalthaltigem politischem Widerstand (respektive Terror) können wir von folgenden Aspekten abhängig machen:
a) vom staatlichen System, in das sie eingebettet sind
Demokratie mit vielfältigen Möglichkeiten der Opposition / Meinungsbildung
Diktatur ohne Möglichkeit einer freien Meinungsbildung
b) vom Ziel, das durch sie verfolgt wird
Schutz von Menschenleben
Schutz von Tieren
Schutz der Umwelt
Politische Unabhängigkeit
Durchsetzung von Menschenrechten
Bekämpfung einer Diktatur und Errichtung einer Demokratie
Bekämpfung einer Demokratie und Errichtung einer Diktatur
Durchsetzung eines religiöses "Gottesstaats" und Beseitigung der zivilen / säkularen Ordnung
...
c) von den Mitteln, die angewendet werden
passiver Widerstand / Ungehorsam ohne Gewalt
Sachbeschädigung
Gewalt gegen Tiere
Gewalt gegen Menschen
Gewalt gegen politisch Verantwortliche auf der Gegenseite
Gewalt gegen Zivilisten / Unbeteiligte
d) von den Alternativen, die es sonst gäbe und die "verworfen" werden (und von den friedlichen und legalen Mitteln, die bereits versucht worden sind)