Die dänische Zeitung „Jyillands Posten“ veröffentlicht am 30. September 2005 12 Karikaturen, die den Islam in einen kritischen Kontext stellen / mit Terror assoziieren. Eine davon ist eine Karikatur, die den Propheten Mohammed zweigt. Anstelle des Turbans trägt er eine Bombe.
Die Karikaturen finden in Dänemark zunächst wenig Resonanz. Die Zeitung fragt in dänischen Moscheen nach, was denn Muslime so von diesen Karikaturen halten; die Karikaturen sollen den so genannten „Clash of civilization“ anheizen / provozieren, sagen Kritiker.
Auch in der islamischen Welt werden die Karikaturen zunächst nicht wahrgenommen.
Ein dänischer Imam, Ahmed Abu Laban, geht mit den dänischen Karikaturen im Gepäck Ende Dezember/Anfang Jänner auf Nah-Ost-Reise. In Mekka findet eine Konferenz von 57 islamischen Staaten statt. Die Karikaturen werden auf dieser Konferenz gezeigt
Ende Jänner ruft Saudi-Arabien aus Protest seinen Botschafter aus Dänemark zurück. Supermärkte in muslimischen Staaten boykottieren dänische Produkte. In muslimischen Staaten (Iran, Syrien, Libanon, Pakistan, Indonesien, …) brechen Proteste gegen die Karikaturen aus. Ein Teil der Proteste ist friedlich. Ein Teil der Demonstrationen kippt; teilweise gesteuert, behaupten westliche Medien; in Damaskus geht die dänische Botschaft in Flammen auf; dänische und andere europäische Fahnen werden verbrannt; aus Versehen auch eine Schweizer Fahne; irgendein Mullah spricht eine Fatwa gegen den Zeichner der Karikaturen insgesamt kommen vermutlich ein paar hundert Menschen, die meisten demonstrierende Moslems, ums Leben,
Im Hintergrund ist u. a. ein Bilderverbot, das in weiten Teilen des Islam sehr streng ausgelegt wird: Es ist nicht erlaubt, Gott und Mohammed bildlich darzustellen. Im Hintergrund ist aber auch ein belastetes Klima zwischen dem europäischen Westen einerseits und Teilen der Islamischen Welt andererseits (Iran-USA/Westen-Konflikt, Israel-Palästina-Konflikt, Irak-Krieg, ...) Und im Hintergrund ist eine teilweise misslungene Integrationspolitik in westeuropäischen Staaten.
In Europa beginnt man, den europäischen Wert der Presse- und Meinungsfreiheit gegenüber religiösen Empfindlichkeiten zu verteidigen; Zeitungen in Frankreich, in Italien, in der Schweiz … drucken die Karikaturen ab, obwohl die Redakteure alle sagen, dass es schlechte Karikaturen seien; es geht ums Prinzip. In Frankreich wird der Chefredakteur von „France Soir“ entlassen, weil er die Karikaturen veröffentlicht hat. Unter dem Druck entschuldigt sich der Chefredakteur von „Jyllands Posten“.
In Europa beginnt man aber auch grundlegender und kontroversieller über Pressefreiheit und ihre Grenzen zu diskutieren.
In der islamischen Welt gibt es jede Menge Stimmen, die zwar die Karikaturen scharf kritisieren, die gewalttätigen Reaktionen darauf aber ebenfalls scharf verurteilen.
Das Stichwort „Karikaturenstreit“ bringt bei Google am 1. 3. 2006 den Verweis auf 895 000 deutsche Seiten.
(zusammengestellt nach "profil", 13. 2. 2006)
Im Jänner 2015 verüben zwei in Frankreich aufgewachsene, sich der Al Kaida zuzählende junge Männer einen brutalen Terroranschlag auf die Redakteure der französischen Satire-Zeitung "Charlie Hebdo".
"Charlie Hebdo" gehört zu jenen Medien, die 2005 die Mohammed-Karikaturen von Jyllands-Posten nachdruckten. Satire und das Recht, auch über Religionen kritisch und spöttisch, manchmal auch jenseits der Grenze des guten Geschmacks zu berichten, gehört zum Kern-Selbstverständnis des Mediums.
Beim Terroranschlag in den Redaktionsräumen von "Charlie Hebdo" am 7. Jänner 2015 wurden 8 Journalisten regelrecht "hingerichtet" und ein Sicherheitsbeamter getötet.
In Verbindung mit diesem Terroranschlag machte ein Komplize einen Überfall auf einen Jüdischen Supermarkt, bei dem er vier Menschen tötete. Und er erschoss eine Polizistin.
Die Attentäter wurden kurze Zeit später von Polizisten erschossen.
Viele Menschen begriffen, dass die Anschläge von Paris auch ein gezielter Anschlag auf das westliche Grundverständnis von Meinungs- und Pressefreiheit sind. Sie solidarisierten sich mit den Opfern. Es gibt viele öffentliche Demonstrationen. Der Slogan der Bewegung lautet: "Je suis Charlie"
Meinungsfreiheit, also das fundamentale Recht die eigenen Meinung öffentlich zu sagen, ist ein grundlegendes Menschenrecht, das u. a. durch die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 und durch die EMRK garantiert ist.
Meinungsfreiheit beinhaltet insbesondere auch das Recht, sich öffentlich politisch zu artikulieren und Kritik an den politischen Machthabern und an offiziellen Organisationen zu üben
Zur Meinungsfreiheit gehören z. B. auch die Freiheit der Kunst (auch die Freiheit, Grenzen z. B. des guten Geschmacks zu überschreiben) und die Presse- und Medienfreiheit.
Pressefreiheit ist ein Grundrecht, das Publikationsorgane (Massenmedien) vor Einschränkungen durch politische Machthaber schützt. Insbesondere geschützt ist das Recht der freien und kritischen Berichterstattung. Vor allem geht es darum, dass …
Pressefreiheit ist wie jedes Freiheitsrecht ein Abwägungsrecht. Das heißt: die Pressefreiheit hat Grenzen.
Das heißt: Medien sind in ihrer Berichterstattung an Normen und Regeln gebunden. Dazu gehören rechtliche Regeln (rechtliche Grenzen der Meinungsfreiheit); aber auch „informelle Regeln“, deren Einhaltung der Presserat überwacht. Wenn ein Medium / ein Journalist diese Regeln missachtet, erfolgt eine Rüge durch den Presserat.
Grenzen der Pressefreiheit sind z. B. in Ö.:
Diktaturen schränken die Meinungs- und Pressefreiheit in den allermeisten Fällen durch Zensurgesetze ein. Ein besonders brutales Beispiel ist die Gleichschaltung der Presse durch die Nationalsozialisten unmittelbar nach der „Machtergreifung“ 1933:
In Demokratien sind Medien „die vierte Instanz“. Sie haben eine ganz wichtige Kontrollfunktion. Und das in doppelter Hinsicht:
In Diktaturen: Bedrohung durch politische Zensur
Autokratische Politiker schränken die Presse- und Meinungsfreiheit teilweise offen, teilweise subtil ein.
Ein Beispiel ist Russland unter Putin: offiziell gibt es Presse- und Meinungsfreiheit; politisch missliebige Journalisten erfahren aber Repressionen; es gibt immer wieder Tötungen von kritischen Journalisten, die nicht aufgeklärt werden; missliebige Medien werden geschlossen oder in den finanziellen Ruin getrieben
In westlichen Demokratien: Bedrohung durch Verflechtung von Wirtschaft und Medien; Bedrohung durch Pressekonzentration(Meinungskartelle)
In wesetlichen Demokratien: Bedrohung durch religiösen Fundamentalismus und religiösen Terror. Beispiel "Charlie Hebdo"
Fundamentalistische Religionen, insbesondere der fundamentalistische Islam, wollen religionskritische Berichterstattung und die Verletzung religiöser Normen durch JournalistInnen nicht akzeptieren. Die Religiöse Norm ist für sie höher zu bewerten als staatliches Recht. Das ist aber in einem demokratischen Rechtsstaat ein No-Go. Denn es bedroht das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit, in dessen Kern das Recht auf Kritik steht.
Das Besondere an der Situation ist, dass nicht der staatliche Machtapparat, sondern eine fanatische und ideologisch aufgeladene Gruppe die Meinungsfreiheit bekämpft und mit den Mitteln des Terrors auf unliebsame journalistische Berichterstattung reagiert.
Der Anschlag auf Charlie Hebdo gehört zu einer Serie von Anschlägen auf Journalisten / Medienschaffende, die sich islamkritisch äußern oder die religiöse Normen (Bilderverbot) brechen.
Ein Problem ist, wenn Journalisten aus Angst vor Gewalt / vor Terror auf die Auseinandersetzung mit „heißen Themen“ oder auf kritische Berichterstattung über Religionen und Missstände, die Religionen zu verantworten haben, verzichten. Viele sagen, das wäre eine Kapitulation / eine Bankrotterklärung für das Grundprinzip der Meinungsfreiheit; man ginge vor religiösen Fanatikern, die die Grundwerte missachten, in die Knie. Deshalb entbrennt in vielen Redaktionen nach Terroranschlägen wie z. B. auf Charlie Hebdo die Diskussion, ob man die Bilder / Karikaturen veröffentlichen soll. Für viele ist die Veröffentlichung ein Bekenntnis zur Meinungsfreiheit. Manche lehnen sie als Akt der Provokation ab. Manche argumentieren, die Karikaturen seien nicht „wertvoll“.
Die offiziellen christlichen Kirchen haben gelernt, Kritik an religiösen Autoritäten „auszuhalten“. Aber es gibt auch immer wieder Diskussionen um Grenzen der Meinungsfreiheit. Zum Beispiel veröffentlicht das Satire-Magazin „Titanic“ 2012 ein Titelblatt, in dem der Papst mit „angepinkelter“ Kleidung gezeigt wird. Das löst Kritik und Debatten über die Grenzen der Meinungsfreiheit aus. Die entscheidende Frage ist aber, ob damit eine Person entwürdigt (Papst als Mensch) wird oder ob eine Institution (Papst als Machthaber/Amtsinhaber/religiöse Instanz)
a) Vergleiche die Dynamik des Karikaturenstreits im Jahr 2005/2006 mit der Diskussion und den Ausschreitungen als Reaktion auf die Terroranschläge von Paris. Was scheint ähnlich zu sein? Wo gibt es Unterschiede?
b) Warum ist Presse- und Meinungsfreiheit aus westlicher Sicht ein derartig wichtiger Grundwert? Was "symbolisiert" sie? Welche Bedeutung hat sie für eine funktionierende Demokratie?
c) Warum und inwiefern ist die Presse- und Meinungsfreiheit durch wirtschaftliche Entwicklungen (z. B. Internet, Wirtschaftskrise, Gratis-Medien, ...) in Gefahr?
d) Ist das Internet und insbesondere die Gratis-Kultur im Internet eine Gefahr für die Meinungs- und Pressefreiheit? Oder ist sie umgekehrt sogar eine Stütze für diesen Grundwert. Stelle zwei gegensätzliche Sichtweisen einander gegenüber.
e) Warum und inwiefern ist die Presse- und Meinungsfreiheit durch religiösen Fanatismus bedroht? Wie stark ist dies deiner Meinung nach der Fall?
f) Sollten Religionen deiner Meinung nach besser vor Kritik mit den Stilmitteln der Karikatur und der Satire geschützt sein als "weltliche" Institutionen und ihre Repräsentanten? Oder widerspricht eine solche Forderung dem westlichen Grundverständnis nach Meinungs- und Religionsfreiheit?