Psychodynamische Persönlichkeitsmodelle orientieren sich meistens am Persönlichkeitsmodell, das Sigmund Freud entwickelt hat. Grundlegend dabei ist die Unterteilung der menschlichen Persönlichkeit in drei Grundinstanzen – nämlich: ES, ICH, ÜBER-ICH –, die sich im Laufe der psychischen Entwicklung individuell formen und in einer dynamischen Verbindung zueinander stehen. Vor allem ES und ÜBER-ICH stehen miteinander häufig in Konflikt; das ICH hat dabei die Aufgabe zwischen widersprüchlichen Impulsen (und dem, was die Außenwelt zulässt) zu vermitteln.
Das ES: die "älteste" Schicht der Persönlichkeit (erstes Lebensjahr)
Das ES enthält alle Anteile der Persönlichkeit, die triebhaften Charakter haben, also alle Formen von Lust und Unlust. Die vitalen Triebe wie Hunger, Durst, aber auch soziale Bedürfnisse (z. B. nach körperlicher Nähe) sind Abwandlungen dieser fundamentalen Triebe. Später entwickeln sich aus diesen Formen auch wesentliche Anteile des emotionalen Erlebens, also z. B. von Ängsten.
Vielleicht sollten wir einmal über die Frage nachdenken, was "die Welt" eines Neugeborenen oder eines Kindes im ersten Lebensjahr kennzeichnet und wie ein Neugeborenes im ersten Lebensjahr die Welt erfährt oder wahrnimmt. Wir müssen nicht lange nachdenken, um zu erkennen, dass ein Baby in einer ganz anderen Welt lebt als ein älteres Kind oder gar ein Erwachsener.
Aus tiefenpsychologischer Perspektive verfügt ein Neugeborenes zunächst einmal nur über die psychische Instanz des ES. Es ist – als „extreme Frühgeburt“- vor allem durch Triebbedürfnisse, die sein Überleben sichern sollen, gesteuert. Die biologische Erklärung dafür ist einfach: Im Vergleich zu anderen Säugetieren - von Nestflüchtern ganz zu schweigen - ist ein Menschen-Baby unvergleichlich stärker und länger auf Fürsorge angewiesen. [Der Grund dafür ist, dass der Mensch ein überdimensional großes Gehirn hat, das von Knochen geschützt werden muss. Auf der anderen Seite haben sich bei Menschenfrauen durch den aufrechten Gang die Beckenknochen so verändert, dass ein relativ schmaler Geburtskanal entstanden ist. Ein Kind mit einem noch größeren Kopf könnte von einer Frau also nicht mehr geboren werden.] Weil der Mensch so früh geboren wird, muss er im ersten Lebensjahr noch "nachreifen". Dies gilt nicht nur für die körperliche, sondern auch für die psychische Entwicklung. Während die körperliche Trennung von der Mutter mit dem Durschschneiden der Nabelschnur vollzogen wird, dauert die "psychische Trennung" beispielsweise noch wesentlich länger. Das macht den Menschen extrem lernfähig und prägbar. Das macht ihn aber auch verletzlich.
Für die Tiefenpsychologie, vor allem für die Psychoanalyse, ist das Kind im ersten Lebensjahr ein "Bedürfnisbündel" ohne Selbst-Bewusstsein. Es kann sich selbst als Person anfangs noch nicht von seiner sozialen Umgebung abgrenzen und erlebt sich in einer dyadischen Einheit mit einer Bezugsperson, meist der Mutter. Es muss erst über viele soziale Lernerfahrungen entdecken, dass es ein eigenständiges, von der Mutter und anderen Bezugspersonen abgegrenztes Lebewesen ist. Ein Kind braucht also - neben der Befriedigung des Bedürfnisses nach Nahrung - für eine gesunde psychische Entwicklung körperliche Nähe, sozialen Kontakt, Ansprache und ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. (Speziell beschäftigt sich mit dieser Thematik auch die so genannte Bindungsforschung, die wichtige Elemente aus der Psychoanalyse aufnimmt und weiterdenkt).
Im Mittelpunkt der Erfahrungswelt eines Neugeobrenen oder eines Babys steht das Bedürfnis nach unmittelbarer Befriedigung elementarer Bedürfnisse oder Triebe. Das Kind kann noch nicht zwischen seinen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der sozialen Umgebung differenzieren und kann daher kein Verständnis für Triebverzicht entwickeln. Das heißt, in seiner psychischen Struktur dominiert das ES, Ansätze eines ICHs sind erst im Entstehen, ein ÜBER-ICH ist überhaupt noch nicht vorhanden. Genau aus diesem Grund kann man ein Kind im ersten Lebensjahr (im Unterschied zu später) auch nicht verwöhnen.
Kinder, deren soziale Bedürfnisse auf eine fundamentale Weise nicht befriedigt werden, entwickeln später teilweise schwere, therapeutisch oft nicht mehr korrigierbare Persönlichkeitsstörungen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Babys Gewalt erfahren, wenn sie keine soziale Nähe erleben oder wenn auf ihre sozialen Signale (Schreien, Lächeln, ...) keine Antwort erfolgt. Typische Störungen der Persönlichkeitsentwicklung betreffen dann die Grenzen zwischen dem eigenen ICH und der sozialen Umwelt. Betroffenen Menschen fehlt dann z. B. die Empathie-Fähigkeit, das heißt, sie sind nicht in der Lage, sich in einen anderen Menschen hineinzufühlen.
Das Es folgt dem „LUSTPRINZIP“. Das heißt, es drängt auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ohne rationale Prüfung und ohne Rücksichtnahme auf die Grenzen der Umwelt, auf ethische Normen u. a. m. (Lustprinzip = Ich WILL)
Das ICH: auf dem Weg zu einer selbst-bewussten Persönlichkeit (ab dem zweiten L.) Oder: "Wo ES war, muss ICH werden" (Freud)
Im ersten Lebensjahr lernt ein Kind mehr als in jeder anderen Phase seines Lebens. Das spiegelt sich u. a. darin, dass sich sein Gehirngewicht nahezu verdoppelt, weil sich in diesem Zeitraum so viele neue Synapsen (Verbindungen zwischen Nervenzellen, die Resultat von Lernprozessen sind) bilden.
Rund um den ersten Geburtstag macht ein Kind überdies zwei Lernschritte, die für die Entstehung der zweiten Persönlichkeitsinstanz, des ICHs, entscheidend sind: Es lernt zu gehen (nachdem es vorher normalerweise gekrabbelt ist). Und es formuliert die ersten Wörter.
Psychoanalytisch betrachtet ermöglicht das Sprechen und das Gehen dem Kind die Herausbildung eines ICH-Bewusstseins, also des Bewusstseins, eine eigenständige Persönlichkeit zu sein, die sich von ihrer sozialen Umgebung abgrenzt.
Das Gehen ermöglicht es dem Kind, die Welt, in der es lebt, selbst zu erobern und zu entdecken. Damit ist es nicht mehr (ausschließlich) darauf angewiesen, dass Menschen in seiner sozialen Umgebung seine Bedürfnisse erkennen und befriedigen. Es kann sich selbst helfen. Außerdem entdeckt es, dass viele Objekte trotz ihrer äußerlichen Veränderung im Kern gleich bleiben: Ein Tisch bleibt ein Tisch, unabhängig davon ob das Kind ihn von unten betrachtet (indem es unter den Tisch kriecht), von der Seite (indem es sich neben den Tisch stellt), von oben (indem es auf den Tisch klettert), von der Nähe oder von der Ferne. (Objektkonstanz). Ähnlich entdeckt es, dass die Mutter oder der Vater die gleichen Personen bleiben, unabhängig davon ob sie sich gerade in unmittelbarer Nähe befinden oder ob sie im Nebenraum sind. Und es entdeckt vor allem die Konstanz der eigenen Persönlichkeit.
Das Sprechen ermöglicht dem Kind, die Vielzahl der Wahrnehmungseindrücke zu ordnen und zu kategorisieren und damit voneinander abzugrenzen. Auch das hilft ihm, zwischen sich selbst als Person und der bunten Welt, in der es lebt, zu differenzieren. Außerdem ist das Sprechen Voraussetzung dafür, dass so etwas wie „bewusste Erinnerung“ und damit ein bewusstes Gedächtnis und eine bewusste Identität entstehen können. Und schlussendlich ermöglicht das Sprechen dem Kind, eigene Bedürfnisse zu artikulieren („Papa Ball“).
In der Sprache der Tiefenpsychologie heißt dies: Das ICH als eigene Persönlichkeitsinstanz entsteht. Das ICH ist die Instanz, in der alle bewussten (und damit alle sprachlich fassbaren) Persönlichkeitsanteile organisiert sind. Das Kind lernt sich selbst als abgegrenzte, eigenständige, mit seiner sozialen Umgebung aber in Verbindung stehende Persönlichkeit zu erfahren.
Das Kind lernt, dass es Bedürfnisse auch aktiv selbst befriedigen kann. Es lernt aber auch, dass seine Wünsche und Bedürfnisse nicht unbedingt die Bedürfnisses der Umgebung sein müssen, dass manche Bedürfnisse nicht oder erst später befriedigt werden können. Das heißt, dass das Lustprinzip des Es teilweise durch das Realitätsprinzip des Ichs ersetzt werden. (Realitätsprinzip: ICH KANN)
Das ÜBER-ICH: das Wissen um "Gut" und "Böse" (ab dem 3./4. Lebensjahr)
Im dritten und vierten Lebensjahr machen die meisten Kinder eine so genannte "Trotzphase" durch. Für Eltern ist dies oft eine sehr anstrengende Zeit, weil das Kind seine Grenzen überschreitet, die elterliche Ordnung durcheinander bringt, sich Anordnungen durch lauten Protest widersetzt.
Aus tiefenpsychologischer Perspektive ist diese Entwicklungsphase sehr wichtig, weil nur so ein Bewusstsein über Normen, über soziale Regeln, über das, was richtig und was falsch ist, entsteht. Das Kind muss die Grenzen des Erlaubten immer wieder ausprobieren und austesten. Die ursprünglich äußerlichen Normen werden Schritt für Schritt zu eigenen Normvorstellungen, die auch dann gelten, wenn z. B. gerade kein Erwachsener in der Nähe ist und hinschaut („Internalisierung“). Es wäre falsch, einem Kind in dieser Phase alles "durchgehen" zu lassen. Denn dann bleibt das Kind zu stark auf sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse fokussiert. Es bleibt in der ICH-Welt des zweiten Lebensjahres verhaftet, in der sich die ganze Welt um die eigene Person dreht. Ebenso falsch wäre es aber auch, zu enge und zu rigide Grenzen zu setzen. Am problematischsten für eine stabile Über-Ich-Entwicklung ist es allerdings, wenn die soziale Umgebung keine nachvollziehbaren und erkennbaren Grenzen zu definieren vermag. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn ein Elternteil heute etwas erlaubt (und vielleicht sogar noch unterstützt), was er oder sie am nächsten Tag untersagt (und vielleicht sogar noch bestraft).
Das ÜBER-ICH, das als letzte Instanz die Persönlichkeitsstruktur ergänzt, folgt dem SOLLPRINZIP. (ICH SOLL)
Und wie geht es weiter?
Im vierten Lebensjahr ist mit den Instanzen ES, ICH und ÜBER-ICH die Grundstruktur der menschlichen Persönlichkeit festgelegt. Das heißt, dass ein Mensch zu diesem Zeitpunkt schon so etwas wie einen "Charakter" entwickelt hat.
Die Persönlichkeitsentwicklung ist aber zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich nicht abgeschlossen. Die einzelnen Instanzen entwickeln sich über das gesamte Leben hindurch weiter.
Wichtig aus tiefenpsychologischer Perspektive ist aber, dass in den jeweiligen Lebensabschnitten die Fundamente für die entsprechenden Teilbereiche der Persönlichkeit gelegt werden, was - wie leicht nachvollziebar ist - einen Menschen in ganz besonderem Maße prägt, was ihn aber auch in ganz besonderem Maße verletzlich macht. Wenn in diesen ersten Lebensjahren ein Mensch das, was er für eine gesunde Entwicklung braucht, nicht bekommt, hat das schwerere Auswirkungen als eine Krise in einer späteren Lebensphase.
Allerdings muss man sich vor Kurz-Schlüssen hüten. Dass ein Kind im ersten Lebensjahr soziale Nähe, Kontakt, Ansprache braucht, heißt nicht unbedingt und in jedem Fall, dass NUR die Mutter ihr Kind betreuen kann und dass ein Kind, das teilweise in einer Kinderkrippe ist, sich nicht gesund entwickeln kann; es heißt nicht, dass man ein Kind NIE schreien lassen darf u.a.m.
Und überhaupt: Kinder entwickeln sich zum Glück auch dann zu gesunden Persönlichkeiten, wenn Eltern nicht immer alles richtig machen. Allerdings muss "das Grundklima" stimmen.