Anna O. ist eine Patientin des Nervenarztes Dr. Breuer. Sie leidet an hysterischen Lähmungserscheinungen. Freud und Breuer beschreiben den Fall Anna O. in "Studien über Hysterie".
Hysterie (von. lat. hystera = Gebärmutter) ist eine Krankheit, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in epidemischen Ausmaßen praktisch ausschließlich bei Frauen aus der oberen Mittelschicht auftritt. Sie ist durch eine Vielzahl von körperlichen Symptomen, für die es aber keine körperlichen Ursachen gibt, gekennzeichnet. (Man nennt diese Symptome Konversions-Symptome, also Symptome, die ein psychisches Problem auf der körperlichen Ebene sichtbar machen. Heute würde man von psychosomatischen Symptomen sprechen.
Sehr häufig sind Sinnesausfälle (hysterische Taubheit oder hysterische Blindheit), Amnesie (Gedächtnisverlust), Lähmungs-erscheinungen, ... Ein Leitsymptom sind Ohnmachtsanfälle, die mit einer charakteristischen extremer Verbiegung und Versteifung des Rückgrats verbunden sind. Hysterie als Krankheitsbild ist heute praktisch ausgestorben. (Allenfalls gibt es noch die meistens nicht gerade als Kompliment gedachte Aussage, jemand sei "hysterisch", wenn er (besser: meistens sie) sich etwas überspannt verhält).
Der erste, der in Europa Hysterie als psychische Störung betrachtet (und nicht als Auswirkungen eines Gebärmutter-Defekts) ist der Pariser Arzt Charcot. Er behandelt Hysterikerinnen mittels Hypnose und befiehlt ihnen, ihre hysterischen Symptome "loszulassen". Anscheinend wirkt das; zumindest teilweise. Freud fährt nach Paris und die Arbeit Charcots zu studieren und bringt sie nach Wien mit. Weil er ein miserabler Hypnotisieur ist, ersetzt er die Methode später durch das Prinzip der freien Assoziation.
Freud und Breuer interessieren sich für das Phänomen der Hysterie. An Patientinnen, die an hysterischen Symptomen leiden, probieren sie unterschiedliche Behandlungsmethoden aus. Freud setzt immer stärker auf eine Methode, die er als Redekur bezeichnet und die die Grundlage der späteren psychoanalytischen Methode der freien Assoziation wird.
Freud dokumentiert, was er in seinen Fallstudien über die Ursachen von Hysterie herausfindet. Vor allem erkennt Freud, dass hysterische Symptome wie Lähmungserscheinungen verschwinden, wenn die Patientinnen sich unter Hypnose an ein Ereignis erinnern können, das diese Lähmung zum ersten Mal ausgelöst hat (Die Lähmung der Hand der Patientin sieht er zum Beispiel in Zusammenhang mit Erfahrungen, die Anna O. macht, als sie ihren geliebten todkranken und sterbenden Vater pflegt. Die Gefühle, die sie dabei empfindet, muss sie verdrängen, weil sie sozial nicht erlaubt sind und weil sie sie überfordern. Die verdrängten Gefühle manifestieren (zeigen) sich in den hysterischen Symptomen. Das Wiederbewusstmachen der Konfliktsituation und das Bearbeiten der Gefühle führt zum Verschwinden der Symptome. Zumindest behaupten das Breuer und Freud.
Die Theorie klingt sehr plausibel und eingänglich. Aber an der Art der Darstellung gibt es Zweifel. Denn inzwischen ist die Identität von Anna O. bekannt. Es handelt sich bei Anna O um Berta von Pappenheim, eine aus einer bürgerlich-assimiliert-jüdischen Familie stammenden Frau. Sie ist u. a. deshalb bekannt geworden, weil sie sich für eine soziale und politische Besserstellung der Frauen in der Gesellschaft sehr stark eingesetzt hat. Anders als Freud behauptet hat, ist Anna O. durch die die Freudsche "Redekur" keinesfalls geheilt worden. Verschiedene Symptome sind später wieder aufgetreten und Anna O. hat immer wieder längere stationäre Aufenthalte in verschiedenen psychischen Sanatorien, unter anderem auch in Kreuzlingen am Bodensee in der berühmten Binswanger-Klinik, gehabt. Daneben hat sie sich aber auch sozialpolitisch und frauenpolitisch engagiert und viel zur Bewusstseinsbildung und zur Besserstellung sozial benachteiligter Frauen beigetragen.
Von einer Einzelfallstudie sprechen wir, wenn eine Fragestellung oder eine Theorie an einer oder an wenigen Personen meistens über einen längeren Zeitraum hinweg systematisch untersucht und dokumentiert wird. Meistens wird zwar an verhältnismäßig wenigen Personen geforscht. Dafür steht aber eine Fülle komplexen Datenmaterials zur Verfügung, wie ein Experiment sie niemals liefern könnte. Eine Einzelfallstudie (zumindest vom Prinzip her, im Hinblick auf Details gäbe es wissenschaftstheoretisch wohl das eine oder andere kritisch anzumerken) sind die Studien zum Fall Kaspar Hauser oder zu anderen so genannten "Wolfskindern"
Einzelfallstudien werden vor allem dann durchgeführt, wenn aufgrund der komplexen Fragestellung Experimente keine zielführenden Antworten erwarten lassen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn es um Entwicklungszusammenhänge geht oder um die Frage, durch welche verschiedenen Faktoren z. B. eine psychische Erkrankung begünstigt wird und wie diese Faktoren miteinander in Wechselwirkung stehen.
Einzelfallstudien finden sich vor allem im klinischen Bereich, also da, wo ÄrztInnen oder PsychotherapeutInnen mit kranken Menschen arbeiten und gleichzeitig versuchen, weitere Erkenntnisse über die Dynamik von Krankheitsbildern zu gewinnen. Als Klassiker in diesem Bereich gelten die Studien, die Sigmund Freud rund um 1900 mit PatientInnen durchführt und die die zentrale Grundlage für die Entwicklung der Psychoanalyse (und damit der Tiefenpsychologie als einer der Hauptrichtungen in der Psychologie) sind. Einer der berühmtesten Fälle ist der Fall Anna O.
Aber auch da, wo durch bestimmte Umstände Konstellationen entstehen, durch die ForscherInnen interessante Erkenntnisse über Zusammenhänge oder die Überprüfung von Arbeitshypothesen ermöglicht werden, werden Einzelfallstudien durchgeführt. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang ist der tragische Fall des Phineas Gage, der u. a. vom Neurologen Alberto Damasio systematisch erforscht worden ist.
Vorteile und Stärken der Einzelfallstudie