fiktives Fallbeispiel
Ungefähr 1970. In der Stadt H. wird ein neues Krankenhaus mit einer Geburten-Station gebaut. Es ist vorgesehen, dass die Babys nach der Entbindung in einem Neugeborenen-Saal medizinisch bestens überwacht und von gut ausgebildeten Säuglings-Schwestern pflegerisch bestens betreut werden. Die Mütter, die sich von der anstrengenden Geburt erholen sollen, bekommen die Babys vier- bis sechsmal am Tag zum Stillen. Werner F. von der Oppositionspartei X kritisiert dieses System und behauptet, dass die Trennung der Neugeborenen von ihren Müttern für die Entwicklung der Kinder schädlich sei. Jutta K. von der verantwortlichen Bürgermeister-Partei Y entgegnet, Kinder nach der Geburt bräuchten eine gute Ernährung und bestmögliche medizinische Versorgung. Die Trennung von der Mutter sei kein Problem. Babys würden noch nicht kommunizeren. Und früher habe man Kinder auch nicht 24 Stunden am Tag mit sich herumgetragen. Und aus diesen Kindern sei auch etwas geworden. Außerdem dürfe man Kinder nicht verzärteln und verwöhnen.
Wer hat recht? Und warum ist das ein Fall für die Psychologie?
Diskussion dazu:
Brauchen Neugeborene außer einer guten körperlichen Versorgung auch nonverbale Kommunikation und körperliche Nähe, also Hautkontakt, Blickkontakt, Ansprache, …? Brauchen sie den Kontakt zu einer
Bezugsperson?
Experimente gelten als die "härteste" wissenschaftliche Forschungsmethode. Es gibt Experimente, die mit Menschen durchgeführt werden, und Tier-Experimente.
Wesentlich ist, dass Experimente immer in einer Laborsituation unter kontrollierten Bedingungen stattfinden. Eine Forschungshypothese soll dadurch überprüft werden, dass eine entscheidende Variable isoliert wird. Welche Rolle diese Variable spielt, wird überprüft, indem mindestens zwei Gruppen - eine Versuchsgruppe und eine Kontrollgruppe - gebildet werden. Für beide Gruppen sollten - von der Variable abgesehen - genau dieselben Bedingungen gelten. Gemessene Unterschiede im Verhalten können dann auf die Variable zurückgeführt werden.
Experimente können sehr unterschiedliche Designs aufweisen. Aber sie müssen in jedem Fall immer drei grundlegende Bedingungen erfüllen, damit sie als Experiment überhaupt durchgehen können. Diese Bedingungen sind
Experimente spielen in der Psychologie seit jeher eine Rolle. Häufig forscht man dabei mit Tieren. Allerdings geht es der Psychologie dabei meistens nicht darum, das Verhalten von Tieren zu erforschen. Vielmehr benutzt sie Tiere als "Modelle", während es ihr in Wirklichkeit um den Menschen geht.
Dabei steht die Forschung mit Säugetieren ganz eindeutig im Zentrum, weil deren neurologische Strukturen (Zentralnervensystem etc.) den Menschen ähnlich sind. Einfache Reaktionen - beispielsweise die körperliche Reaktion auf Stressoren oder ganz einfache Lernprozesse - lassen sich häufig an einfachen Säugetieren wie Mäusen oder Ratten studieren. Wenn es darum geht, komplexere Reaktionen - zum Beispiel komplexere Lernprozesse oder soziale Verhaltensweisen - zu untersuchen, forscht die Psychologie auch an höher entwickelten Säugetieren, beispielsweise Hunden, Katzen, Affen.
Man muss zwischen Laborexperimenten und der Feldforschung unterscheiden:
In Experimenten werden Tiere üblicherweise in eine künstliche Laborsituation gebracht. Das hat den Vorteil, dass alle Bedingungen, unter denen ein Experiment stattfindet, für die ForscherInnen kontrollierbar sind. Daher gelten die Forschungsergebnisse, die auf diese Weise zustande kommen, auch als "hart". Feldforschung findet demgegenüber in einem möglichst natürlichen Umfeld der Tiere statt. Für die Feldforschung eignen sich beispielsweise Zoo-Anlagen, in denen Tiere möglichst artgerechte Lebensbedingungen vorfinden. Manche ForscherInnen, zum Beispiel die Primaten-Forscherin Jane Goodall, haben aber auch viel Zeit dafür aufgewendet, Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Weil im "freien Feld" nicht alle Einflussfaktoren kontrolllierbar sind, gelten die Ergebnisse der Feldforschung als "weniger hart".
Im Tierversuch beobachtet werden kann logischerweise nur das Verhalten von Tieren, also die Reaktionen, die sie auf bestimmte Versuchsbedingungen - man nennt diese Variablen - zeigen. Das Erleben von Tieren - also das, was sie beispielsweise "fühlen" oder "empfinden" - entzieht sich unserem direkten Zugang.
Wie in der Medizin ist heute auch die Psychologie im Hinblick auf Tierversuche mit ethischen Herausforderungen konfrontiert.
In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts herrscht bei vielen Menschen die Meinung vor, dass ein Kleinkind nur über sehr eingeschränkte psychische Fähigkeiten verfüge und zum Beispiel kaum Gefühle entwickeln könne oder Erinnerungen speichern könne. Psychologen sind hier keine Ausnahme.
Diese Fähigkeiten entwickelten sich - so meint man - erst als Folge der Sprachentwicklung, die etwa um das Ende des ersten Lebensjahres einsetzt. Diesem Denkmodell zufolge ist es vor allem
wichtig, dass ein Baby im ersten Lebensjahr körperlich versorgt wird, kurz: etwas zu essen bekommt und gewickelt wird. In den Krankenhäusern ist es üblich, die Kinder sofort nach der Geburt von
den Müttern zu trennen und sie ihnen fünfmal am Tag zum Stillen vorbeizubringen. Wenn ein Kind ins Krankenhaus muss, sieht man kein Problem darin, das Kind für viele Tage, manchmal sogar Wochen
oder Monate von ihren Müttern und Vätern zu trennen. Vielfach herrscht auch die Meinung vor, man müsse ein Kind schreien lassen, damit es seine "Lungen stärke". Eine andere häufig verbreitete
Meinung ist, dass Mütter ihre Babys verwöhnten, wenn sie sie zu viel mit sich herumtragen und sich zu viel mit ihnen abgeben. In diesem Sinn werden die Mütter auch angeleitet, was den Umgang mit
ihren Kindern anbelangt.
In diesem Klima macht der US-Psychologe Harry Harlow eine ganze Serie von Experimenten mit Rhesus-Äffchen. Er trennt die Äffchen unmittelbar nach der Geburt von ihren Müttern. Als Ersatz bekommen
sie eine Milch spendende "Drahtmutter" - ein Drahtgestell mit einer Milchflasche - und eine "Handtuchmutter", ein mit Frottee-Stoff überzogenes Drahtgestell, das darüber hinaus einen
gesichtsähnlichen Kopf hat.
Harlow beobachtet das Verhalten der Rhesusäffchen und stellt fest, dass diese sich fast ausschließlich bei der "Handtuchmutter" aufhalten und nur zum Trinken zur Drahtmutter wechseln. Damit kann
er "beweisen", dass der reine Körperkontakt für Rhesusaffen-Babys zumindest gleich wichtig, wenn nicht wichtiger als die körperliche Ernährung ist. (Im YouTube-Film siehst du eine kurze filmische
Dokumentation des Experiments. Wir sehen das Verhalten eines Rhesus-Affen-Babys. Außerdem erklärt Harlow, wie er das Verhalten des Babys deutet.)
Außerdem möchte Harlow herausfinden, ob es eine Beziehung zwischen dem Verlust der Mutter in der frühen Kindheit und der Erwachsenenpersönlichkeit gibt. Dazu untersucht er das Verhalten von erwachsenen Rhesus-Affen, die in mehreren Gruppen aufgewachsenen sind:
Harlow stellt fest, dass die Rhesus-Affen, die weder Draht- noch Handtuchmutter zur Verfügung haben und die, die nur eine Drahtmutter zur Verfügung haben, schon als Babys schwere Verhaltensstörungen entwickeln. Sie reagieren auf Außenreize schon nach kurzer Zeit nicht mehr und verarmen emotional völlig. Sie tendieren zu monotonen, starren Bewegungen. Sie sitzen apathisch in einer Ecke. Sie reagieren nicht auf Kommunikationsversuche.
Harlow stellt fest, dass die Rhesus Affen, die Drahtmutter und Handtuchmutter zur Verfügung haben, sich fast ausschließlich bei der Handtuchmutter aufhalten. Sie flüchten sich bei Stress zur Handtuchmutter und klammern sich an sie fest. Sie zeigen, wenn sie bei der Handtuchmutter "Schutz gefunden haben", nach einer bestimmten Zeit wieder Neugier- und Explorationsverhalten. Sie suchen auch zu anderen Lebewesen kommunikativen Kontakt.
Harlow stellt fest, dass die Äffchen aus allen Untersuchungsgruppen als Erwachsene auffallende Verhaltensstörungen zeigen. Wesentlich stärker sind diese aber bei den Affen aus der UG1 und
UG2.
Besonders auffällig ist, dass Rhesus-Affen aus der UG1 und der UG2 starke Verhaltensstörungen im Umgang mit anderen Rhesus-Affen zeigen. Entweder reagieren sie mit Aggressionen oder mit starken
sozialen Rückzugstendenzen, wenn sie mit anderen Affen zusammenkommen. Außerdem zeigen sie Störungen im Paarungsverhalten. Am dramatischsten aber ist, dass weibliche Rhesus-Affen, wenn sie selber
Mütter geworden sind, ihre eigenen Babys nicht versorgen und dass sie ihnen mit Aggressivität und Gewalt begegnen.
Tierversuche haben gewisse VORTEILE:
Allerdings haben Tierversuche auch NACHTEILE
Nicht nur Harlow, sondern auch andere ForscherInnen setzen sich mit der Frage nach der Bedeutung der Kindheit für die Entwicklung der Erwachsenenpersönlichkeit auseinander. Dazu zählen zum Beispiel
Aufgabe: Recherchiere zu einem der Forschungsansätze näheres und fasse die zentralen Hypothesen und den Weg, auf dem sie gewonnen worden sind, in einem kurzen Text zusammen. Vergleiche die Ergebnisse mit den Erkenntnissen von Harlow. (Inwiefern passen diese Ergebnisse zusammen? Inwiefern gibt es Widersprüche? Inwiefern gehen die Erkenntnisse oder die Theorien über die von Harlow hinaus?)